11.12.1995
Berlin
Es ist eine halbe Stunde nach zweiundzwanzig Uhr. Wir sitzen im „Sanssouci" auf der Fahrt nach Berlin und nähern uns einem größeren Bahnhof. Aus dem Lautsprecher erfahren wir wo wir sind. Leider verstehe ich kein Slowakisch. Wir halten länger. Ich schaue aus dem Fenster. Zwei Leute sitzen am Bahnsteig. Auf einem Schild ist „Koureni zakazano" zu lesen, heißt wohl ‚Rauchen verboten'.
Sie ist eingeschlafen. Ich ziehe die Vorhänge zu. Der Spalt, der immer bleibt, wenn man in einem Abteil die Vorhänge zuzieht, gibt genug Licht um sich ein paar Gedanken aufzuschreiben.
Eine Trillerpfeife, ein Ruck. Wir fahren weiter. Wieder eine Tafel. Brno. Etwas später wieder Brno. Ich bin unruhig wegen morgen, dem Begräbnis meines Vaters.
Warum fahren wir deswegen nach Berlin? Ich habe nie seine Hand gehalten, weiß nicht wie er gerochen hat, kannte nicht sein Lächeln. Wie ist es, wenn er dich umarmt, lobt oder er dir die Daumen drückt? Wie ist es, wenn er dich ermahnt, bestraft, eine Ohrfeige gibt? Ich habe es in diesem Leben nicht erfahren.
Schwarze Nacht da draußen und ein wenig dunkelgelbes, verrauchtes Licht hier drinnen. Ähnlich meine Gefühle. Außen dunkel, nüchtern, und innen brennt ein Licht und wärmt. Schwer verständlich für viele, dass wir diese Reise machen. Ich verabschiede mich von einem Unbekannten. Zum Schluss war er arm, erben werde ich nichts. Das hat mir meine Mutter gesagt.
Als ich das Bild, welches ihn als Dreiundzwanzigjährigen in Uniform zeigt, erstmals in den Händen gehalten habe, ist etwas passiert. Man kennt sich nicht, glaubt man, plötzlich sieht man Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten. Ja er war mein Vater. Die Möglichkeit ihn in diesem Leben gegenüberzutreten habe ich verspielt, er auch. Trotzdem will ich zumindest etwas über ihn erfahren. Will mir ein Gemälde machen können von ihm. Wie er war, an was er glaubte. Stückchenweise werden Informationen gehortet. Ich glaube, dass ich ihm die letzte Ehre erweise, wird ihm Frieden bringen oder mehr, egal in welchen Sphären er jetzt schwebt.
Kurt Günter, mein Vater, gestorben am 18. Oktober 1995, wird am 12. Dezember im Humboldt-Friedhof in Berlin begraben. Nach langem Leiden. So stand es im Trauerschreiben. Sechsundsiebzig ist er geworden, immerhin.
Vater
Wo warst du all die Jahre
Als ich rief nach deiner Hand
Warum bist du nur geflohen
Und zerbrachest unser Band.
Geblieben ist eine Narbe
Die ich als Knabe nicht verstand
Zum Manne herangewachsen wusste ich
Es war, weil wir uns nie gekannt.
Heute stehe ich hier am Grabe
Erweise dir die letzte Ehr'
Bitte für dich beim Herrn um Gnade
Und sei die Erde nicht zu schwer.
Es läuten die Glocken in dieser mir fremden Stadt
Und bald schon verlasse ich dein Land
Wenn ich jetzt hier an dich gedenke
Glaube ich, dass uns einiges verband.
Mein Vater wurde an diesem Tag in einem anonymen Grab beerdigt. Ein Minibagger hob einen mehrmetrigen Graben aus. Mehrere Urnen wurden in anderthalb Meter Abstand in die Erde versenkt. Ein Pfarrer hat zu allen gesprochen, den Toten und den Lebenden hier. Die jeweils Trauernden warfen Blumen und Erde. Danach wurde alles wieder zugebaggert, als Abschluss wurde grüne Wiese auf die Erdnarbe gelegt. Kein Kreuz. Kein Grabstein. Anonymes Begräbnis für anonyme Menschen. Es war kein Geld da, meinte seine Lebensgefährtin. Sie log und ich zahlte noch den Leichenschmaus. Der Ehemann der Lebensgefährtin brachte uns zur richtigen Haltestelle. Schnell kam der Bus und langsam verabschiedete ich mich von Berlin und meinem Vater.
Diese Zeilen schrieb ich damals auf der Rückreise von Berlin. Es war wie beichten und Buße tun in einem. Mein Vater und ich haben verstanden. Seither erleben wir uns in ruhigen Minuten und manchmal tanzt er sogar in meinen Träumen.
tiwaz 2009